"Das Urteil
Unter dem Datum des 23. September 1912 ist in Franz Kafkas Tagebuch zu lesen: „Diese Geschichte ,Das Urteil’ habe ich in der Nacht vom 22. bis 23., von zehn Uhr abends bis sechs Uhr früh in einem Zug geschrieben… Nur so kann geschrieben werden, nur in einem solchen Zusammenhang, mit solcher vollständigen Öffnung des Leibes und der Seele.“ Kafka war nach Abschluß der Erzählung—anders als bei den Prosastücken seines ersten Buches „Betrachtung“—von der Besonderheit und dem Wert dieser Arbeit erfüllt. Er bot sie seinem Freund Max Brod für dessen Jahrbuch „Arkadia“ zur Veröffentlichung an (sie erschien dort Ende 1913), las sie in privatem Kreis und auch einem größeren Publikum vor und widmete die Erzählung Felice Bauer, die er am 13. August 1912 kennengelernt hatte.
Am 11. Februar 1913 notierte Kafka im Tagebuch: „Anläßlich der Korrektur des ,Urteil’ schreibe ich alle Beziehungen auf, die mir in der Geschichte klar geworden sind, soweit ich sie gegenwärtig habe. Es ist dies notwendig, denn die Geschichte ist wie eine regelrechte Geburt mit Schmutz und Schleim bedeckt aus mir herausgekommen und nur ich habe die Hand, die bis zum Körper dringen kann und Lust dazu hat: Der Freund ist die Verbindung zwischen Vater und Sohn, er ist ihre größte Gemeinsamkeit. Allein bei seinem Fenster sitzend, wühlt Georg in diesem Gemeinsamen mit Wollust, glaubt den Vater in sich zu haben und hält alles, bis auf eine flüchtige traurige Nachdenklichkeit, für friedlich. Die Entwicklung der Geschichte zeigt nun, wie aus dem Gemeinsamen, dem Freund, der Vater hervorsteigt und sich als Gegensatz Georg gegenüber aufstellt, verstärkt durch andere kleine Gemeinsamkeiten, nämlich durch die Liebe, Anhänglichkeit der Mutter, durch die treue Erinnerung an sie und durch die Kundschaft, die ja der Vater ursprünglich für das Geschäft erworben hat. Georg hat nichts; die Braut, die in der Geschichte nur durch die Beziehung zum Freund, also zum Gemeinsamen, lebt, und die, da eben noch nicht Hochzeit war, in den Blutkreis, der sich um Vater und Sohn zieht, nicht eintreten kann, wird vom Vater leicht vertrieben. Das Gemeinsame ist alles um den Vater aufgetürmt, Georg fühlt es nur als Fremdes, selbständig Gewordenes, von ihm niemals genug Beschütztes, russischen Revolutionen Ausgesetztes, und nur weil er selbst nichts mehr hat als den Blick auf den Vater, wirkt das Urteil, das ihm den Vater gänzlich verschließt, so stark auf ihn.“
Kafkas Hinweise auf Zahl und Art der Buchstabenverbindungen bei Georg/Franz, Bende(mann)/Kafka, Frieda/Felice, Brandenfeld/Bauer deuten einen autobiographischen Hintergrund an: die Beziehung zur eigenen Familie, besonders zum Vater, die Beziehung zu Felice Bauer—doch ist damit eben nur der Hintergrund gekennzeichnet. Vor ihm ereignet sich die zunächst rätselhafte Geschichte Georgs. Da Georg den Freund—sein wahres Ich—in sich trägt, der Freund aber einer Ehe nicht zustimmen kann, ohne dieses wahre Ich aufzugeben, ist Georg Frieda gegenüber schuldig geworden. Er gerät in Schuld nicht nur der Braut und dem Vater gegenüber—den er ins Dunkle abgeschoben hat, d.h. entmächtigen wollte—, sondern ebenso gegenüber dem eigenen, nicht ablösbaren wahren Kern seiner Person. Der Vater, in neuer Vitalität durch die Kraft seiner Beziehung zur eigenen Frau auferstanden, spricht sein Urteil, dem das Schuldgefühl Georgs nichts mehr entgegenzusetzen vermag: Es bleibt ihm nur der Selbstmord.